Bretagne 2016

Vom 25. August bis zum 7. September 2016 machten wir Ferien in der Bretagne, womit die insgesamt vier Tage der Hin- und Rückreise mit dem Auto (die devant-bretonischen und die après-bretonischen Ferientage) bereits unter „Ferien in der Bretagne“ verbucht sind.

Donnerstag, 25. August 2016

Wir partieren Karlsruhe gegen 13 Uhr und arrivieren à la France jenseits des Rheins bei Iffezheim um 14 Uhr.

Eugen von Kreuzer: „Kinder des Vaterlands, folgt mir unauffällig in unser Ferienhaus in der Bretagne!“ Mischtechnik 2016

Hinter Straßburg durchfahren wir die wunderschöne Hügellandschaft des Nordelsass. Eine Raststätte trägt den Namen „Aire du Gottesheim“, offenbar findet man an höherer Stelle ebenfalls, man könne sich hier niederlassen, so lieblich und friedlich wie es hier ist. Tipp an alle Gottessucher: Mal nachschauen, ob ER zuhause ist. (Wir selbst haben uns das allerdings nicht einmal bei Peter Handke in Chaville getraut, aber davon später.)

An der ersten Bezahlstelle stellen wir fest, dass man in Frankreich eine größere Menge Arbeitsstellen eingespart hat, die Stationen sind unbemannt und unbefraut. Merkwürdig, wir haben davon in unserer Presselandschaft gar nichts mitbekommen, dabei ist man in Frankreich gewerkschafts- und sonstigerseits doch so protestierfreudig. Die Begegnung Mensch-Maschine verläuft nicht problemfrei, das Gerät ist widerspenstig: weder zeigt es den zu zahlenden Betrag an, noch akzeptiert es die deutschen Euromünzen, die wir ihm nach Gefühl als Futter anbieten. Es spuckt sie unbesehen wieder aus. L.s Blutdruck steigt, obwohl sich hinter uns keine Schlange bildet, aber wir sitzen fest. Nach Drücken der Hilfetaste erscheint immerhin akustisch eine freundliche Dame, die jedoch nur französisch spricht und das auch noch unverständlich. Das hilft uns nur bedingt, bringt aber den Automaten zur Besinnung – er schreibt uns plötzlich, was er haben will und akzeptiert das Eingeworfene ohne zu murren.

U.: „…stell Dir vor, in dem alten Golf und ohne Klimaanlage…“  L. (sehr sensibel): „Was soll ich mir da vorstellen?“  U.: „Das Gerumpel und die Hitze! Das Ganze würde mich sehr viel mehr angestrengt haben …. Sag mal, was war das denn jetzt für eine grammatikalische Zeit? Futur II im Konjunktiv?“ L. denkt darüber ungefähr 100 km lang nach und weiß es dann auch nicht wirklich, vermutet aber, dass Futur und Konjunktiv nicht kompatibel sind.

Nach knapp 480 in unserem (relativ neuen) schwarzen Golf-Diesel (mit Klimaanlage und Piepserei beim Rückwärtsfahren) gefahrenen Kilometern erreichen wir Château-Thierry.

Das von U. gebuchte Zimmer in der fabelhaften Welt der Madame „Jardin des Fables“ kommt uns nicht nur erstaunlich französisch, sondern auch ziemlich achtzehntes Jahrhundert vor. Allein die stilbrüchigen Pseudo-van-Goghs neben dem Bett sind ein halbwegs verlässliches Indiz dafür, dass wir uns nicht auf einer Zeitreise, sondern in einer Inszenierung befinden. Zu dieser gehört auch eine Wiege samt Inhalt, welcher zum einen strahlt und zum anderen aus Plastik ist. Im ganzen Haus gebe es keine Schlüssel, sagt Madame und überreicht uns beim Verlassen ihres Etablissements einen Zettel mit Zahlen und Buchstaben darauf: der Code, der es uns ermöglichen wird, nach Einbruch der Dunkelheit wieder ins Haus zu gelangen. Ein Sesam-öffne-dich des 21. Jahrhunderts.

Wir spazieren im letzten Abendlicht durch den schönen und schön leeren Park des über der Stadt gelegenen Châteaus. Das Château selbst ist verschwunden, übrig geblieben sind imposante Festungsmauern und steile Treppen. Danach lassen wir uns am Rande des Marktplatzes an einem der draußen stehenden Tische des örtlichen Italieners nieder. U. ist begeistert von ihrer Salatplatte mit gebackenem Ziegenkäse, frittierten Kartoffeln darunter und herrlicher Vinaigrette. L. lobt insgeheim in den höchsten Tönen seine Lasagne – also die, die er selbst neulich vor einem Jahr zubereitet hat. Diese franko-italienische hier schmeckt aber auch nicht schlecht. Insgesamt ist dieser Abend ein gelungener Auftakt zu unserer Bretagne-Reise, genauer gesagt: ein beschwingter Einstieg ins Präludium zu unseren Sommerferien unter dem Titel „Bretagne 2016“.

Freitag, 26. August 2016

Womit der Tag wirklich begann, lässt sich schwer sagen. Mit dem Aufwachen um dreiviertel acht oder mit dem Aufstehen um neun Uhr? Mit dem Zähneputzen oder doch erst mit dem authentisch französischen Kaffee, den uns Madame „Jardin des Fables“ eigenhändig zubereitete? Ein Kaffee, an den L. sich gewöhnen könnte, wie er dachte, aber nicht sagte. Der nach etwas schmeckte, ohne eigentlich „stark“ zu sein. Und nichts gemein hatte mit der Pseudo-Espresso-Plörre, die man hier in vielen Bars und Cafés angedreht bekommt. Nein, es lag nicht am idyllischen, ziemlich zugepflanzten kleinen Innenhof, in dem eine gusseiserne Relief-Platte das Jahr 1716 anzeigte. Dieser Kaffee hätte auch in dem modernen Hightech-Hotel, in dem wir die nächste Nacht verbringen sollten, unseren Beifall gefunden. Aber der Reihe nach.

Schon um halb elf Uhr saßen wir im Auto und fuhren mal eben die 570 Kilometer von Château-Thierry in der Picardie nach Vannes in der Bretagne. Dorthin (in die Bretagne) fahren alle Deutschen, tous les Allemands, sagte unsere Vermieterin, als wir ihr das Ziel unserer Reise nannten. Es klang nicht so, als ob sie das gutheißen würde. Um sechs Uhr waren wir da. Um Paris herum war der Verkehr etwas dichter gewesen, ansonsten war erstaunlich wenig los auf den französischen Autobahnen. Liegt es an den Preisen? Die knapp 600 Kilometer hatten uns rund 40 Euro gekostet.

In Vannes hat Chlothar I. 560 die Bretonen besiegt (deren Anführer hieß Konomor, was ihm aber nichts genützt hat) und die französische Schauspielerin Louise Bourgoin stammt von hier, falls die jemand kennt.

Beim abendlichen Spaziergang in Vannes bewundern wir die schöne Gartenanlage samt altem (geschlossenem) Waschhaus vor der Stadtbefestigungsmauer und die Fachwerkhäuser im normannischen Stil. Prinzipiell kann sich U. in den Ferien nicht so für Fachwerkhäuser begeistern, da sie diese zu sehr an ihren Musikschulort im Schwäbischen erinnern. Diese hier sind aber doch sichtbar anders. Außerdem umgibt sie hier ein französisch-atlantisches Flair. Das macht es erträglich. (Was L. von Fachwerkhäusern hält, verraten wir hier nicht, wir wollen ja keine kulturreligiösen Gefühle verletzen.)

Samstag, 27. August 2016

Der Tag begann in Vannes und endete nahe dem Ende der Welt (finistère) in Lézanquel bei Cléden. Dazwischen machten wir Halt in Concarneau, wo wir keinen ernst zu nehmenden Versuch unternahmen, um das touristische Muss, die Ville Close, herumzukommen.

Den Frühstückstisch in unserem Hightech-Hotel in Vannes teilten wir uns so gut es ging mit einem Französisch sprechenden Paar. So gut es ging heißt: Da U. für ihre Frühstücksute(n)silien innerhalb des ihr zustehenden Tischquadrats im ersten Moment nicht genügend Platz fand, überschritt sie mit mindestens einem der Schüsselchen die klar erkannbare Grenze zum Nachbartischchen rechts neben ihr, was die an diesem sitzende Dame mit einem halb irritierten, halb amüsierten Blick kommentierte. Woraufhin L., der die Blicke der ihm schräg gegenüber Sitzenden besser wahrnehmen und deuten konnte als U., letztere auf ihren Fauxpas aufmerksam machte, worauf U. das Schüsselchen in ihren Bereich zurück zog. Es geht alles, wenn man nur will. Die Kunsthistorikerin (daran, dass es sich bei ihr um eine Kunsthistorikerin handelte, hatte L. nicht den geringsten Zweifel) atmete erleichtert auf und lächelte von nun an noch freundlicher als zuvor. Die leicht ins Hysterische spielende Anspannung, die von ihr ausging, litt dadurch aber keinen Schaden.

U. hat zwei Tage Autofahrt in Nerven und Knochen, leicht gequält steigt sie wieder in den Kombigolf. Für die Rückfahrt beschließt sie, lieber zweimal an einem Ort zu übernachten, um einen Tag autofrei zu haben.

Für die verbleibenden 270 oder so Kilometer steht reichlich Zeit zur Verfügung, als wir gegen elf das Hotel in der Prärie außerhalb von Vannes verlassen. Sollen wir Halt in Quimper machen? Oder in Concarneau? Quimper steht selbstverständlich weit höher auf der Besichtigungsliste Kulturinteressierter. Doch erstens zählen wir uns nur sehr bedingt zu dieser Gattung und zweitens kommen wir nun zu dem Urgrund unserer Bretagnereise, bzw. warum wir wie alle anderen Allemands gen Westen fuhren, anstatt, wie sonst gewöhnlich, in den Süden (wie all die anderen Allemands). Und das, obwohl wir nach diesem Sommer, der erst Mitte  Juli begann (bis Juni haben wir geheizt!), doch ein erhebliches Sonnen- und Wärmedefizit hatten. Mit der Planung waren wir (das heißt U.) spät dran, nichts war gebucht bis zum letzten Schultag. Zum ersten Ferientag wünschte sie sich von ihrem L. den neuesten, gerade eben erschienen Bretonenkrimi von Jean Luc Bannalec: „Bretonische Flut“. Schon allein das Titelbild mit Leuchtturm, sich brechender weißer Rauschewelle und überirdischem Blau am Himmel war überaus feriös, herrlich. U. war schon allein durch das Ansehen des Buches sofort ein wenig erholt.  Um es kurz zu fassen: diese Krimis liest man nicht wegen des Plots, der ist in den meisten Fällen ziemlich wirr und besonders in diesem. Man liest sie wegen des sympathischen Personals, wegen der bretonischen Mythen und Sonderlichkeiten und wegen der wirklich wundervollen Landschaftsbeschreibungen. Anfang August war es in Karlsruhe so heiß, dass man sich schon wieder nach einem frischen Lüftchen sehnte. U. war gedanklich mit Kommissar Dupin im Bretonischen unterwegs und bald auch virtuell (ohne Kommissar), auf der Suche nach einem Häuschen.

Zurück also zur Frage „Quimper oder Concarneau“: Kommissar Dupin lebt in Concarneau, Quimper liegt von unserem zukünftigen Zuhause aus näher und ist außerdem kulturell so bedeutungsvoll, dass man bei einem so kurzen Aufenthalt auf der Durchreise gar nicht weiß, wo man beginnen soll. Wir beginnen also gar nicht und stoppen in Concarneau. Am Meer entlang flanieren wir Richtung Zentrum, hier ein großer Platz, umsäumt von der Markthalle und etlichen Restaurants, an der Ecke das „Admiral“. Der Chefkoch des Restaurants rettet zu allen Tageszeiten, angefangen beim Morgenkaffee bis zu herrlichen Mahlzeiten kurz vor Mitternacht, Kommissar Dupins leibliches und, eng damit verbunden, seelisches Überleben. Steht man als gewöhnlich Sterblicher vor diesem edlen Restaurant mit Kaffee um die Ecke, fragt man sich, wie ein Kommissar sich solches leisten können soll. Aber das wäre ja gewöhnlich, wir fragen uns das also nicht.

Nur mit Mühe schafft es U., ihren L. über die Brücke in die Ville Close zu ziehen. Von außen betrachtet, kann man das Ausmaß des Inselchens nicht erahnen. Nach Durchschreiten des Tores empfangen uns keltische Barden, die keltisches Liedgut pflegen, einer der Gruppe spielt Blockflöte und das auch noch sehr schön. Durch ein zweites Tor gelangt man in die eine Straße umfassende Einkaufsstraße, Eisstände reihen sich an Souvenirshops und Cafés. Wir lernen, dass es auch in der Bretagne Holzclogs gibt und staunen, dass in einem Café der Zucker in Silberschale mit Silberlöffelchen gereicht wird. Am Ende der pittoresken Altstadteinkaufsmeile stehen wir in einer Art Semi-Amphitheater, in dem zwei junge Gitarristen rocken und singen.

„Die Bretagne zieht sich!“. Diese oft von U.s Schülerin Jutta wiederholte Feststellung bewahrheitet sich. Hinter Quimper (bretonisch: Kemper) zieht sie sich über kleinere und kleinste Straßen bis ans Ende der Welt. Unser Häuschen befindet sich etwa fünf Kilometer davor. Für die knapp 40 km Luftlinie von Quimper bis dorthin brauchen wir eineinhalb Stunden. Man könnte die Landschaft, die unverhofften Meerblicke, Hortensien und bretonischen Häuser etwas mehr genießen als wir es tun, wir haben aber mittlerweile wahrhaftig lange genug im Auto gesessen. Die Hauptstraße des kurz vor unserem Weiler gelegenen Dorfes Cléden ist laut Verkehrsschild gesperrt, die Umleitung bis zu einem gewissen Grad ausgeschildert (später finden wir durch andere Irrfahrten heraus, dass genau ein Schild fehlt, um den Umgeleiteten auf die ursprüngliche Straße zurück zu führen). Wir verirren uns in einen Weiler nach dem anderen, U.s Nervenkostüm weist allmählich schwerere Schäden auf. Schlussendlich rettet uns U.s Handy, das uns mittels Satellit nach Lézanquel leitet, einer Ansammlung von drei oder vier Gehöften. L. beschließt tatsächlich, an einer Tür zu klingeln und nach dem Ferienhäuschen zu fragen. Das ist durchaus erstaunlich. Noch erstaunlicher ist, dass es das Wohnhaus unserer Vermieterin ist, die auf das Nebenhaus zeigt.

Es zeigt sich, dass uns der Hund des Nachbarn schon sehnsüchtig erwartet hatte. Schwanzwedelnd und aufgeregt bellend (eine nichts Ungutes verheißende Kombination) kam er aus der Einfahrt geschossen und warf sich vor U. auf den Rücken, um sich knuddeln zu lassen. Unsere Vermieterin, Madame Touller, benahm sich dagegen in jeder Hinsicht zivilisierter. Sie begrüßte uns freundlich, aber vergleichsweise zurückhaltend, und beraubte uns mit einem „fast hätte ich es vergessen“ (en Francais, natürlich) zuletzt noch des größten Teils unserer Barschaft, da wir nicht den geforderten Scheck als Kaution präsentieren konnten. 500 Euro hatten wir zu hinterlegen für womöglich im Suff demolierte Einrichtungsgegenstände oder so ähnlich. Nicht ganz nachvollziehbar, aber an diesem „Ende der Welt“ wohl so üblich. Trotzdem fanden wir unser Häuschen sehr schön und bedankten uns artig für die selbstgebackenen Crêpes und das Fläschchen Cidre, die Madame T. uns zur Begrüßung kredenzte. L. aß nach dem Ausladen des Gepäcks alle fünf Rundfladen auf einmal und trank dazu den größten Teil des Flascheninhalts (375 ml) – womöglich war es schon vorgekommen, dass Gäste danach zu randalieren begonnen hatten, was die Sache mit der Kaution halbwegs plausibel machen würde. (Wir greifen an dieser Stelle vor und verraten jetzt schon, dass wir die Kaution am Ende unseres Aufenthalts auf Heller und Pfennig genau zurück bekamen, ohne dass Madame Touller sich die Mühe gemacht hätte, das Häuschen und seinen Inhalt irgendeiner Art von Prüfung zu unterziehen. Bei der Sache mit der sogenannten Kaution, Französisch la caution, scheint es sich also eher um einen alten bretonischen Brauch als um eine versicherungstechnische Maßnahme zu handeln.)

Am Abend spazieren wir in das Dörfchen mit der Straßen-Sperrung und stellen fest, dass man durch die Baustelle problemlos hätte durchfahren können.

Sonntag, 28. August 2016

Vom Regen-Wecker wurden wir geweckt um halb acht: ein kurzes Schauer-Prasseln aufs Dachfenster. Der Wetterbericht hatte Regen, Wind und höchstens 20 Grad vorhergesagt. Es war also alles in Ordnung. Um dreiviertel neun ging L. nach unten, kochte Kaffee und setzte sich mit Peter Handke („Vor der Baumschattenwand nachts“) hinter die geschlossene Eingangstür. Bald kam der Hund von gestern und schnüffelte draußen ein Mal rund ums Auto herum. Dann ging er wieder. Auch für ihn schien alles in Ordnung zu sein.

So gegen zwei Uhr hielten wir die Zeit für eine kleine Erkundungsfahrt für gekommen. Erstes Ziel: die Pointe du Castel Meur – U. wollte das Meur, pardon: das Meer sehen.  Der Ginster raschelte ein Plastikrascheln, das Gras war weich vom Wind und vom Salz. Es begegneten uns ein paar Möwen und auf dem Weg von der Pointe zurück zum Auto ein paar Leute, genauer: zwei Paare – ein junges und ein altes mit uns irgendwo dazwischen.

Zweites Ziel: der Strand an der Baie des Trépassés („Bucht der Verstorbenen“). Da wir zur Orientierung eine Karte im Maßstab 1:25.000 benutzten, schossen wir mit dem Auto über das jeweilige Ziel jeweils beinahe hinaus. Das Baden bzw. Surfen war eigentlich nur innerhalb eines zwanzig Meter breiten Strandabschnitts (Kies und Sand), der von Rettungsschwimmern überwacht wurde, erlaubt. Nichtsdestotrotz surften Könner auch außerhalb dieses Bereichs, die lifeguards kümmerte es nicht. Nur offenkundige Anfänger wurden mit der Trillerpfeife in den Streifen zwischen den blauen Wimpeln komplimentiert.

 

Montag, 29. August 2016

L. will sich vor dem Frühstück wieder mit Handke treffen, doch findet er heute keinen Draht zu ihm. So schlägt er im Kindle Augustinus‘ „Bekenntnisse“ auf und liest als ersten Satz des 16. Kapitels: „Von den Büchern ermahnt, zu mir selbst zu kommen, trat ich unter Deiner Führung in mein Inneres ein.“ Darum also! Das von Augustinus (4. Jahrhundert) danach geschilderte Erleuchtungserlebnis  („Es war nicht das gewöhnliche Licht, das von jedem irdischen Lebewesen erblickt wird […]. Nein, so war das Licht nicht, sondern anders, völlig anders als alle unsere Lichter. […] und es gab nicht die geringste Möglichkeit, daran zu zweifeln.“) blieb L. allerdings versagt. Oder sagen wir: es blieb ihm für dieses Mal erspart.

Statt Erleuchtung stand abermals Erkundung auf dem Programm. Über Plogoff fuhren wir nach Audierne und von dort weiter zum Hafen von Esquibien, von wo eine Fähre zur Île de Sein abgeht – seit dem 27. August (also seit vorgestern) allerdings nur noch einmal am Tag (um 10 Uhr) hin und einmal am Tag (um 17 Uhr) zurück. Darüber müssen wir noch einmal (sehr gründlich) nachdenken.

Ein paar Kilometer weiter, in Pont-Croix, sahen wir uns die beiden nebeneinander gelegenen großen Kirchen an. Die eine vom Anfang des 13., die andere vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Ort hat 1.600 Einwohner! Beim Einkaufen im örtlichen supermaché stand L. beim Käse-Kühlregal lange Zeit neben einem Franzosen. Beide waren sie in die Betrachtung des Käse-Angebots vertieft. Der Franzose (Bretone?) nahm ab und zu einen Käse in die Hand, roch daran und legte ihn wieder zurück. Schließlich entschied er sich für einen Camembert „Le Rustique“. Und erklärte L. (so jedenfalls L.s Vermutung) in vier, fünf Sätzen, warum er gerade diesen ausgewählt habe. L. hörte ihm aufmerksam zu, sagte ein paarmal „oui“ und nahm dann gleichfalls den „Le Rustique“. Warum der Franzose sich für eben diesen Käse entschieden hatte, wusste L. nicht. Er jedenfalls hatte sich für den „Rustikalen“ entschieden, weil der Franzose ihn für gut befunden hatte. Grund genug, n’est-ce pas?

Um nach Lézanquel zurück zu kommen, mussten wir Cléden passieren. Wir hatten uns vorgenommen, die déviation-Schilder, die einen am geradlinigen Durchfahren des Ortes hindern wollten, heute zu ignorieren, um nicht nochmals (wie bei unserer Ankunft) eine umständliche Slalomfahrt durch die nähere Umgebung in Kauf nehmen zu müssen. Nach dem Passieren des ersten Umleitungsschildes stießen wir jedoch auf ein massives Hindernis in Form einer geschlossenen Absperrung. Diese zu entfernen, trauten wir uns dann doch nicht, fuhren also retour und begaben uns ergeben auf den Weg, der mit der Kirche ums Dorf führt. Nur dass wir nicht mehr so genau wussten, wie der geht, so dass wir unser Domizil erst erreichten, nachdem wir sämtliche anderen Exklaven der näheren Umgebung abgeklappert hatten. (L. hatte sich als Beifahrer geweigert, auf der mitgeführten Detailkarte die kürzeste Route ausfindig zu machen und behauptet, dass „wir das auch so finden“ würden. Letztlich behielt er recht.)

Dienstag, 30. August 2016

Unser Ferienhaus war wohl früher einmal ein Stall oder ein Schuppen mit Heuboden, letzterer passenderweise dort, wo jetzt das Bett steht („kommst Du mit mir ins Heu?“). Dann hat man durch raffinierte Raumteilung ein Zwei-Zimmer-Appartement mit Küche und Bad (Dusche, WC) daraus gemacht. Peter Handke notierte 2009, es sei für ihn ein „Zeichen, im Guten auf Reisen zu sein“, wenn er „keine Unordnung mehr“ sehe. Zuhause gelinge ihm das oft nicht. L. meint dazu, es gebe für ihn eine Unordnung, die auszuhalten sei und eine, die nicht zum Aushalten (da) sei. Und es gehe im Leben um nichts anderes als darum, das eine vom anderen (theoretisch und praktisch) unterscheiden zu lernen. Den Ordnungs- bzw. Unordnungszustand unseres Feriendomizils nennt L. „sowohl als auch“. Mais voir par vous-même:

Schon gestern hatten wir den heutigen Tag zum Wandertag erklärt. Von der Bucht der Verstorbenen aus über die Steilküste zur Pointe du Raz und von dort aus irgendwie im Bogen zurück zum Auto. So ähnlich machten wir es dann auch.

Dialog unterwegs: U. „Uuh, ist das schön!“ – L.: „Ja, sehr schön.“ – U.: „Nun kann ich gut verstehen, warum Jutta und ihr Mann jahrelang Anfang September in die Bretagne gefahren sind.“ – L.: „Man muss es ja nicht übertreiben. In diesem Sommer ist es schön und gut, aber ich muss das nicht jedes Jahr haben.“ – U.: „Aber sieh nur: das türkisfarbene Meer, die Klippen, der Strand, die Sonne – einfach herrlich!“ – L.: „Mehr als drei Tage hintereinander würde ich das nicht aushalten. Am vierten Tag würde ich sagen: Bleib mir weg mit Deinen Naturschönheiten, ich will und kann sie nicht mehr sehn. Dieses türkisfarbene Meer! Diese Klippen! Dieser Strand und diese Sonne! Einfach entsetzlich! Nicht umsonst sagt der Volksmund: Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von schönen Tagen – vor allem, wenn dann noch schöne Ausblicke dazukommen, würde ich hinzufügen.“ – U.: „Mach mir meine Bretagne und diesen schönen Spaziergang nicht madig!“ – L.: „Erinnere Dich an das, was wir gestern Abend bei Fontane gelesen haben: ‚Ich habe eine grenzenlose Verachtung gegen das, was man so landläufig hübsch nennt‘.“ – U.: „Du und Dein Fontane, ihr könnt ja verachten, was ihr verachten wollt, und ich kann schön finden, was ich schön finden will – ob Euch das passt oder nicht.“ – L.: „In Ewigkeit, amen.“

Mittwoch, 31. August 2016

Ein Strandurlaub war weder geplant, noch hatten wir einen solchen hier, am „Ende der Welt“, für möglich gehalten. Doch siehe da: die „Bucht der Verstorbenen“ (Baie des Trépassés) gleich rechts von der Pointe-du-Raz kann diesbezüglich geradezu als Geheimtipp gelten – jedenfalls in der Nachsaison. Mag sein, dass hier Ende Juli, Anfang August die Hölle los ist. Wir lagen ein paar Stunden in der Sonne und schauten und hörten den Wellen beim Sich-Brechen zu. Wenn es dazwischen wie Deutsch klang (was nicht selten vorkam), stellten wir uns taub. Doch erkannte man die deutschen Mädels noch bevor sie den Mund zum Sprechen auftaten an den vogelnestartigen Haarklumpen, welche sie ungeniert auf dem Kopf balancierten, als wären sie zuhause in Freiburg (FR), Aalen (AA) oder Heidelberg (HD).

Als wir am Nachmittag wieder gingen, gingen die Wogen gerade besonders hoch und an die 40 Surfer bildeten 20 Meter vor dem Sandstrand ein Band aus menschlichen samt nicht-menschlichen Schwimm-Körpern – waiting for the next ride on the wave.

 

Donnerstag, 1. September 2016

Wir beginnen den Tag mit einem Rückblick auf die bisher von uns während der Reise unter dem Künstlernamen CH&U (für: Chlothar und Ute) geschaffenen Werke. Für eine Ausstellung zu Beginn der Kunst-und-Kultur-Saison im Herbst wird es nicht ganz reichen. Aber wir haben ja, so Gott will, noch ein paar Urlaubs-, Reise- und Schaffenstage vor uns.

Wegen des anhaltend sonnigen Wetters verlegten wir uns und unser tätiges Nichtstun ein weiteres Mal in die Baie-des-Trépassés. Schon als wir uns dem Strand näherten, fiel uns das Fehlen des Wimpels auf, der bisher den Grad der Wahrscheinlichkeit, beim Schwimmen oder Surfen in Seenot zu geraten. angezeigt hatte. Weder Grün noch Rot noch Gelb – nur ein weißer Stecken, der nichts als sich selbst bedeutete, war zu sehen. Ab dem 1. September muss sich offenbar jeder selber retten oder darauf hoffen, von nicht wirklich dazu Befugten aus dem Wasser gezogen und wiederbelebt zu werden. L. behauptete daraufhin, er habe schon beim Einparken gespürt, dass etwas von Freiheit und Abenteuer über der Bucht liege und dass von nun an ihr Name (Bucht der Verstorbenen) wieder mehr sei, als nur ein sprachliches „Missverständnis“ (wie hier vermutet wird) aus Gründen der Förderung des Fremdenverkehrs.

Wenn die Lifeguards gegangen sind, kommen die bis dahin vom Strand verbannten Hunde: große, kleine, junge, alte, bellende, nicht bellende, angeleinte, nicht angeleinte, an der Leine zerrende, nicht an der Leine zerrende, wasserscheue, nicht wasserscheue – und was man sich sonst noch so denken kann. Wie sollte sich L. da auf Werner Heisenbergs Diskussionen mit Albert Einstein konzentrieren (wiedergegeben in Heisenbergs Autobiografie „Der Teil und das Ganze“)? „Gott würfelt nicht“, hatte Einstein hartnäckig postuliert. Das habe auch niemand behauptet, erwiderte Heisenberg. Es gehe einfach nur darum, dass Atome Bestandteile von Beobachtungssituationen und keine Gegenstände seien. Noch Fragen?

 

Freitag, 2. September 2016

Von einem Gang ins 20 Minuten entfernte Plogoff kehrt L. mit einem („eigentlich“: einer) frischen Baguette zurück. Woraufhin U. ihren Plan, den Tag mit einem Müsli zu beginnen, verwirft und sich für das Mitbringsel (mit Butter und Marmelade bzw. Honig) entscheidet. Plogoff liegt auf der anderen Seite einer kleinen Senke, durch die ein Rinnsal  rinnt. Le vendredi findet in P. ein kleiner Markt statt. An einem runden Tischchen hätte L. frische Austern und Weißwein haben können. Doch wann wäre er dann wieder zuhause gewesen?

Während U. noch gar nichts von dem kommenden Frühstücksglück ahnt und den fehlenden nächtlichen Schlaf des morgens nachholt, hat L. mit einem sorgfältig zurecht gelegten Satz die Vermieterin gefragt, ob wir bis Montag bleiben können. Die Antwort hat er nicht en detail  verstanden, wohl aber die positive Grundschwingung. Verstanden hat er auch etwas von „trente“ und wir finden 30 Euro pro Nacht durchaus freundlich, es ist ja auch Nachsaison. Zwei Stunden später kommt eine Mail von Madames Sohn, schwer verständlich, aber wir verstehen, dass pro Nacht 50 Euro zu zahlen sind, außerdem 30 Euro für die Bettwäsche und 30 Euro für die Putzfrau, wenn wir nicht selbst putzen wollen. Das wollen wir durchaus nicht, wir wollen lieber weiterhin unbesorgt den Boden verkrümeln. Unsere Kaution schwindet dahin … Und hier die Mail im Original-Wortlaut:

„Guten Abend haben Sie den Wunsch ausgedrückt, 2 Tage im gite supplementaires zu bleiben. Wir sind glücklich, daß Ihnen der region gefällt. Der Betrag für die 2 supplementaires Tage ist 100 Euros. Sonst wird es Ihnen genügen, auf uns hinzuweisen, wenn der menage am Tag Ihrer Abfahrt am Montag von ihren Versorgungen éffectué sein wird oder wenn Sie desirez, in die Frau menage für die Summe von 30 Euros einzuwilligen. Die Summe, die man wird zurücklassen müssen, hat den proprietaire, mit den 30 Euros für die Tücher und die Schultaschen vor Ort begleitet, die geliefert sind. Herzlich T. Y.“

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CH&L: L’Âne Jaune, 2016 – wir malten ihn am Donnerstagabend bevor und während L. aus Matthias Zschokkes „Die Wolken waren groß und weiß und zogen da oben hin“ vorlas.

Es war einmal eine Isolde, die sollde eigentlich einen englischen König namens Marke heiraten, verliebte sich dann aber unter Drogeneinfluss (sogenannter „Liebestrank“) in den Brautwerber Tristan und dieser, gleichfalls Liebestrank-trunken, verliebte sich in sie. So weit, so ungut. Das Ganze ist oder war eine sehr komplizierte Geschichte, die in zig verschiedenen Varianten seit Hunderten von Jahren erzählt wird. In einer Fassung spielt die in der Bucht von Douarnenez gelegene kleine Île Tristan eine Rolle. Da fuhren wir heute hin.

Ob der Name Tristan etwas mit dem Wort Tristesse zu tun hat, wissen wir nicht und wollen es auch gar nicht wissen. Was wir meinen sagen zu können, ist, dass das rund 30 km von unserem Domizil entfernt gelegene Städtchen Douarnenez ein gerüttelt Maß Tristesse aufzuweisen und herzuzeigen hat. Dem einen gefiel das gut (L.), der anderen (U.) nicht so besonders. Anhand der gemachten Bilder (siehe unten) möge sich jeder selbst sein Bild machen und sich dann auf L.s oder auf U.s Seite schlagen. (L. wettet, das endet 1:19.)

Was noch erwähnt werden könnte: In Douarnenez stieß man im 19. Jahrhundert auf eine Goldader, bestehend aus Sardinenschwärmen in Kombination mit Konservendosen. Es entstanden rund 40 Fischkonservenfabriken (eine davon auf der Tristan-Insel). Die Stadt blühte auf. Um 1880 herum hatten die Sardinen keine Lust mehr, in die Dosen zu wandern und umschwärmten die Bucht weiträumig. Firmenpleiten und Verarmung der Fischfabrikarbeiter waren die Folge. Heute gehört Douarnenez, wie man lesen kann, wieder zu den wichtigsten Fischereihäfen Frankreichs. Die Tristesse der damaligen Depression scheint allerdings noch immer durch die Straßen und Gassen zu wehen.

Samstag, 3. September 2016

Abermals hat U. eine unruhige Nacht verbracht. Das Gebläse des Kühlschranks geht immer genau dann wieder an, wenn sie gerade eingeschlafen ist. Der erste Beschluss des Morgens ist also, künftig von Anfang an mit Ohrenstöpseln zu schlafen. Außerdem drücken auf ihrer Bettseite  die Stahlfedern aus der Matratze in ihre Hüftknochen. Als Seiteneinschläferin hat sie nun nach einer Woche Tortur das Gefühl, beidhüftig grün und blau zu sein, trotz aller Polsterungsmaßnahmen. Der zweite, sehr viel schwerwiegendere Beschluss des Morgens ist demzufolge, die Seiten zu wechseln (auf L.s Seite liegt man nicht ganz so stahlgefedert). Wir sind uns nicht sicher, ob das gut geht. Schließlich liegen wir seit zehn Jahren, egal in welchen Betten und wo auf der Welt: L. links, U. rechts (wenn man vom Fußende auf das Bett schaut).

Bei wechselhaftem, aber nach wie vor mildem bis warmem Wetter machen wir einen längeren Spaziergang zur Baie, wo sich zu den Surfern heute etliche Paddler gesellt haben. Ja, wie uns scheint, sind die Kajak-Fahrer sogar in der Überzahl. Insgesamt tummeln sich an die 70 Neopren-Bekleidete in den besonders hohen, Gischt sprühenden Wellen. Der Stecken ohne Fahne ist nun auch verschwunden. Gut eine Stunde sitzen wir auf einer der beiden Bänke an der weiten Bucht und genießen das Wellenrauschen und die mit den unterschiedlichen Wolkenverhältnissen wechselnde Farben des Meeres. U. findet den Ort magisch schön, kann sich gar nicht losreißen.

Gegen Abend eine Zigaretten-und-Baguette-Fahrt mit dem Auto ins nahe gelegene Plogoff. Die dort erlebbare Verlassenheit ist nicht nur die Ruhe nach der Saison. Erst recht keine Ruhe vor dem Sturm. Sie ist verwandt mit der in den Ortschaften entlang der Grenze zur DDR herrschenden Leere in Wim Wenders Film „Im Lauf der Zeit“.

Sonntag, 4. September 2016

Der nächtliche Seitenwechsel war nur bedingt erfolgreich. Die Hüfthämatome wurden nicht malträtiert, der Kühlschrank durchdrang die Stöpsel nicht, doch L. rotierte wie eine Moulinette auf der Matratze umher, so schien es U.. Wahrscheinlich war er orientierungslos. Natürlich bekam er davon nichts mit, da L. wie viele Männer mit dem Horizontal-Gen gesegnet ist: sobald er liegt, schläft er schon ein (von der ein oder anderen Gelegenheit abgesehen). Außerdem zog er immer wieder an der Bettdecke (diese französische Bettdeckenart mit einer Decke für beide war noch nie etwas für U.). Sie musste einige Male kräftig zurück ziehen, damit sie halbwegs zugedeckt war. Darauf angesprochen meinte L. , dass das eben die Seite gewesen sei, an der er normalerweise ziehen dürfe. So schnell könne Mann nicht umlernen. U. beschließt, sich für die letzte Nacht irgendwie eine eigene Decke zu konstruieren.

„Ich trinke, was da ist.“ Das lasen wir am Vorabend in Matthias Zschokkes Wolken-Buch. Und formen den Satz für unseren Bedarf heute um in: Wir sehen uns an, was da ist. Anstatt im Reiseführer oder auf der Landkarte nach dem wahrhaft Richtigen zu suchen, das anzusehen sich auch wirklich lohnt. Aber hier etwas zum Betrachten, das sich wirklich wirklich lohnt, U. malte es fertig, dieweil L. ihr den zitierten Satz und noch manch anderen vorlas:

CH&L: Die Sardinen von Douarnenez, 2016 (siehe dazu das unter dem 2. September Notierte)

CH&L: Die Sardinen von Douarnenez, 2016 (siehe dazu das unter dem 2. September Notierte)

Sonntagsspaziergang an der Südküste des Finistère: Zwar ist es trübe, die Luft eigentlich kühl, wir werden aber mit erstaunlicher Strahlkraft von der bretonischen Erde gewärmt – es fühlt sich an, als wanderten wir auf einer gigantischen Fußbodenheizung. Es ist Ebbe, die Einheimischen suchen mit bunten Eimern den Strand ab. Was sie da sammeln? Wir wissen es nicht. Auf dem Weg zu dem höchsten Gipfel weit und breit kommen wir an einem einsamen Häuschen am Rande einer Klippe vorbei, es sieht etwas heruntergekommen und verlassen aus. Als U. sich traut, am Abgrund balancierend um die Ecke durch ein Fenster zu sehen, sieht sie ein Zimmerchen mit Sofa, Decke und vielen Bücherstapeln. Wer mag da hausen? Peter Handke auf Wanderschaftsrast? Matthias Zschokke?

Auf dem Gipfel angekommen, umrunden wir die Mauer um die Kapelle Notre Dame de Bon Voyage. U. bekommt einen Riesenschreck. Direkt vor dem Eingang parkt nicht nur sehr kultur-unsensibel ein silberner Golf, er trägt auch noch das Calwer Kennzeichen. Grässlich. So sehr wir die Calwer mögen, so sehr hoffen wir, im Urlaub keinen zu begegnen. Und auch den Autos nicht.

Eine große Freude ist es allerdings überall auf der Welt, einem R4 zu begegnen, noch dazu einem roten. Das gleicht den silbernen CW-Golf mehr als aus, deshalb wird er auch fotografiert.

Am Abend zieht Nebel auf, erinnert ein wenig an den kommenden November.

Montag, 5. September 2016

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CH&U: In der Baie des Trépassés, 2016. Wir kehrten der „Bucht der Verstorbenen“ am 5. September bis auf weiteres endgültig den Rücken. Zum Abschied sagten wir nicht leise „Servus“, sondern halblaut: „Man sieht sich“.

Die Fahrt von Lézanquel bei Cléden-Cap-Sizun nach Les-Loges-de-Josas bei Paris war eine durchaus angenehme. Da L. nichts gefrühstückt hatte, machten wir relativ bald Halt in Rostrenen, wo eine der besten Crêperien der Bretagne zu finden ist – für uns ein Zufallsfund, doch ist sie gewiss in allen Crêperie-Führern (von denen es zweifellos mehrere gibt) verzeichnet. In die Loblieder, die dort auf die Crêperie und ihre Crêpes gesungen werden, stimmen wir gerne ein, wenn man so will: im Bauchton der Überzeugung.

Apropos Loblied: Wir fragen uns, ob wir ohne die Lotsendienste von U.s Handy-Navigation jemals den Weg nach Les-Loges-de-Josas gefunden hätten. Zwar spricht die Navigatorin die französischen Straßennamen extrem interessant aus, doch errät man nach einer kurzen Gewöhnungsphase ziemlich schnell, worauf sie hinaus bzw. was sie eigentlich sagen will.

Dienstag, 6. September 2016

Heute zeigte sich Les-Loges-de-Josas, unser Wohnort für zwei Nächte, beim Gang hinunter zur nächstgelegenen Bahnstation in seiner ganzen dörflichen Idyllizität. Auch ein paar schöne Braune (Pferde) auf der Koppel fehlten da nicht. Nach 25 Minuten kam der ziemlich lange Vorortzug und brachte uns die eine Station weiter zum Bahnhof Versailles-Chantier.

Versailles gibt sich großstädtisch mit breiten Alleen, viel Verkehr und mehreren Bahnhöfen, die man, wie wir auf der Rückfahrt nach Les-Loges erfahren (und ergehen) mussten, nicht miteinander verwechseln sollte. Das Schloss, um das sich hier alles dreht, war auch heute populär, um nicht zu sagen populistisch umschwärmt – vor allem von Asiaten, unter diesen herrschte wohl das Chinesische vor. Zu U.s großer (tres, tres grande) Enttäuschung (déception) waren die Fontänen bis auf eine alle außer Betrieb. Gleichwohl mussten wir, um in den Garten zu gelangen, 8 Euro Eintritt bezahlen. Wären wir schon 2011 hier gewesen, wäre der Eintritt an Fontänen-freien Tagen gratis gewesen. Immer kommt man überall zu spät.

Mit einer Rumpel-Bahn auf Gummi-Rädern, die schon geschätzte eine Million Euro eingefahren hat (das ganze mal vier oder fünf, denn es gibt vier oder fünf davon), fuhren wir zum Canal Grande von Versailles – wo es statt Gondeln Ruderboote zu mieten gibt – und gingen von dort aus durch den Park zurück zum Château. Unterwegs kamen wir an einer Kunstinstallation von Olafur Eliasson vorbei (rissige Erde im Bassin eines Springbrunnens, man ahnt die abgrundtiefe Symbolik). Der Künstler, wie man wohl sagt, hat da und dort drinnen wie draußen seine Duftmarken gesetzt, die man noch bis Anfang Oktober beschnüffeln kann.

Ein Wort zum Château. Tatsächlich fanden wir es (von außen betrachtet) weniger pompös oder prunkvoll als durch die Aura des Namens „Versailles“ insinuiert (wörtlich: an den Busen , sinus, gebracht). Vor allem von hinten, also vom Park aus gesehen, bietet es ein sehr angenehmes architektonisches Bild. Eher flach und breit hingelagert, wirkt der Bau beinahe schlicht und streng. So eine Art barockes Bauhaus – minimalistisch, möchte man sagen, scheut aber davor zurück, wegen der maximalistisch sich gebärdenden vormaligen Eigentümerei. Schade, dass unser Karl-Wilhelm, der Stadtgründer von Karlsruhe, sich nicht wirklich von Versailles zum und beim  Bau seines Hardtwald-Schlosses hat inspirieren lassen, wie immer behauptet wird. Hätte er es getan, wäre nicht so ein missglückter, eckiger Bumerang dabei herausgekommen.

Wir wechseln den Schau-Platz und fahren mit dem Zug (drei Stationen) von Versailles nach Chaville. Dortselbst wohnt Peter Handke. Und L. kann der Versuchung nicht widerstehen, diesen ihn magisch anziehenden Ort aufzusuchen, natürlich ohne P. H. heimsuchen zu wollen, wir sind ja nicht wahnsinnig geworden. Nach einem längeren Fußmarsch (Handke würde sagen: nach ein paar Schritten) stehen wir dann vor einem Haus, in dem Handke wahrscheinlich nicht wohnt. Es ist das Haus Nummer 57 – aber der Schreibende wohnt in Nummer 57 B. Zwischen 57 und 58 gibt es eine Art grünen Tunnel, an dessen Ende wir jedoch kein Licht, sondern nur ziemlich undeutlich ein Tor erkennen können. Dahinter wird wohl Handkes Haus verborgen liegen. Wir haben nun vom Paparrazi-Spielen genug, außerdem tun uns Füße, Beine, Schultern, Arme, Kopf usw. weh. Also begeben wir uns, bevor alles noch peinlicher wird, zum nächstgelegenen Bahnhof und machen uns mit dem Zug (es handelt sich dabei stets um die gleichen langen doppelstöckigen Nahverkehrszüge) auf den Nachhauseweg.

Dieser führt fahrplanmäßig über Versailles. Nun hat Versailles allerdings mindestens drei Bahnhöfe. L. wurde beim Kauf der Fahrkarten zwar davon in Kenntnis gesetzt, dass man in Versailles umzusteigen habe, doch die dabei zu beachtenden Details sind ihm wohl irgendwie entgangen. Wie vorhergesehen, endete unser Zug in Versailles und es war auch richtig, dass der Zug, der uns nach Les-Loges bringen sollte, in Versailles seinen Anfangsbahnhof hatte. Nur dass End- und Anfangsbahnhof nicht identisch waren, obwohl es sich jeweils um Züge der Linie C (die in einem großen Bogen von Versailles aus durch Paris und wieder zurück fährt) handelte. Um es kurz zu machen: Wir gingen zu Fuß zum richtigen Bahnhof, um dann dort (am Automaten) neue Tickets zu kaufen, weil die bereits gelösten (vom Automaten) nicht akzeptiert wurden – was allerdings erst am zweiten Automaten gelang, nachdem der erste nach Erhalt des Geldes keinen Mucks mehr von sich gegeben hatte.

Das war jetzt nicht besonders interessant. Noch uninteressanter ist bzw. wäre die Geschichte vom Italiener, bei dem wir am Abend nach Versailles und Chaville zwei allzu gehaltvolle Pizzen bestellten und jeweils nur zur Hälfte verzehrten. Aber so ist das eben nicht nur im Leben, sondern auch in den Ferien: meistens passiert nichts wirklich Interessantes. Weshalb Matthias Zschokke schreibt, der sei ein Held, der die Flaute klaglos erträgt, oder so ähnlich. (Wer den genauen Wortlaut wissen will, der suche ihn in Zschokkes neuestem Buch: „Die Wolken waren groß und weiß und zogen da oben hin“.)

Mittwoch, 7. September 2016

Hinein ging es über Straßburg (Strasbourg), hinaus fuhren wir über Sarrebruck (Saarbrücken). Und auch wenn es keine Winter-, sondern eine Sommerreise gewesen war: Als wir die Landesgrenze(n) überquerten, summten wir leise vor uns hin: „Fremd sind wir eingezogen, welsch ziehn wir wieder aus.“

freiheit

Eugène Delacroix: „Vorwärts Freunde, es geht zurück!“ (oder so ähnlich), 1830

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